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Full text of "Die Unsterblichen; zwei Possen"

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DER DRAMATISCHE WILLE 
FÜNFTER BAND 



DIE UNSTERBLICHEN 

ZWEI POSSEN 

VON 

IWAN GÖLL 



Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam 



Den Bühnen und Vereinen gegenüber als b 
gedruckt. Alle Rechte vorbehalten, besonder« dat der 
Übersetzung. Dia AuRiihriingirecht iit von Guitav Kiepen- 
heuer- Verlag tu erwerben. 
Copyright by Gutta v Kiepen heuer Verlag Potsdam 



VORWORT 



Ein schwerer Kampf ist entsponnen zum neuen Drama, zum 
Überdrama. 

Bas erste Drama war das der Griechen, in dem die Götter 
sich mit den Menschen massen. Ein Grosses: dass der Gdl da- 
mals den Menschen dessen würdigte, etwas, was seither nicht 
mehr geschah. Das Drama bedeutete tingeheure Steigerung der 
Wirklichkeit, tiefstes, dunkelstes, pjthisches Versenken in die 
masslose Leidenschaft, in den zerfressenden Schmers, alles über- 
real koloriert. 

Später kam dal Drama des Menschen um des Mensehen willen. 
Zerwürfnis mit sick selber, Psychologie, Problematik, Ver- 
nunft. Es wird nur gerechnet mit einer fCirklichkcit und einem 
Reich, und alle Masse sind darum beschrankt. Alles dreht sich 
um einen Menschen, nicht um den Menschen. Das Leben der 
Gesamtheit kommt schlecht zur Entwicklung: keine Massen- 
szene erreicht die Wucht des allen Chores. Und wie gross die 
Lücke ist, merkt man an den misslungenen Stücken des vergan- 
genen Jahrhunderts, die nichts anderes mehr sein wollen als: 
interessant, advokatorisch herausfonlenid oder einfach beschrei- 
bend, Leben nachahmend, nicht schöpferisch. 

Nun fühlt der neue Dramatiker, dass der Endkampf bevor- 
steht : die Auiemandersetsung des Menschen mit allem Ding- und 
Tierhaften um ihn und in ihm. Es ist ein Dringen in das Reich 
der Schatten, die an allem haften, hinter aller Wirklichkeit 
lauern- Erst nach ihrer Besiegung wird vielleicht Befreiung 
möglich. Der Dichter muis wieder wissen, dass es noch ganz 
andere Welten gibt als die der fünf Sinne: Überwelt. Er miui 
sich mit ihr auseinandersetzen. Das wird keineswegs ein Rück- 
fall werden ins Mjst ische oder insßo mantische oder ins Clowneske 



da Vorteil, UMmU ein Gemeinsames darin zu finden ist, Jai 
übersinnliche. 

Zunächst wird alle äussere Farm zu zerschlagen mim. Die 
uemünflige Haltung, dal Konventionelle, dal Moralische, un- 
seres ganzen Lebern Formalitäten. Der Mensch and die Dinge 
werden möglichit noch gezeigt werden, und zur heueren Wh- 
hing immer durch dal Fergrösserungsglm. 

Man hat ganz vergelten, doli die Bühne nichts andern iit 
allein Vergrösserungsglas. Dal wusste das graise Drama immer: 
der Grieche ichritt auf Kothurnen, Shakespeare sprach siiit den 
taten Riesengeistern. Man hat ganz vergelten, dait erstes Sinn- 
bild dei Theaters die Malke ilt. Die Maske ist starr, einmalig 
und eindringlich. Sie ist unabänderlich, unentrinnbar, Schicksal, 
Jeder Mensch trägt leine Maike, was der Antike seine Schuld 
nannte. Die Kinder haben Angst vor ihr und sie schreien. Der 
Mensch, der selbstgefällige, de- nüchterne, soll wieder zu schreien 
lernen. Dazu ist die Bühne da. Und erscheint um nicht sehr 
oft grosstcl Kunst werk, ein SegergoU oder ein ägyptischer König, 
als Maske? 

In der Maske liegt ein Gesell, und dies ist das Gesetz da 
Drama. Dai Unwirkliche wird cur Tatsache. Ei wird für einen 
Augenblick bewiesen,dau dasBantslile unwirklich und .göttlich- 
sein kann, und dsai gerade darin die grollte Wahrheit liegt. 
Die Wahrheit ist nicht in der Vernunft enthalten, der Dichter 
findet sie, nicht der Philosoph. Da Leben, nicht da Erdachte. 
Und a wird ferner gezeigt, dais jeglicher Vorgang, der er- 
schütterndste, wie das unbeumtite Auf- und Zuklappen eines 
Augentidi, von eminenter Wichtigkeit sind für da Gesamtleben 
dieier Weh. Die Bühne darf nicht mit nur .realem' Leben 
arbeiten, und sie wird .überreal', wo sie auch von den Dingen 
hinter den Dingen weist. Beiner Realismus war die grösste Ent- 
gleitung aller Literaturen. 

Die Kumt itt nüJit dazu da, es dem fetten Bürger beauem 
zu machen, doli er den Kopf schüttete: Jaja, so ist es! Jetzt 

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gehen wir zum Erfrischungsraum.' Die Kirnst, sofern $U eräthen, 
bessern oder sonst Wirten will, m uss den Altlagsmenschen er- 
schtagen, ihn erschrecken, wie die Moste das Kind, mit Euripides 
die Athener, die nur taumelnd herausfanden. Die Kunst soll den 
Menschen wieder zum Kind machen. Das einfachste Mittet ist 
die Groteske, aber ohne dass sie zum Lachen reize. Bio Mono- 
lonie und die Dummheit der Menschen sind 10 enorm, dass man 

Das neue Drama wird darum alle technischen Mitlei zu Hilft 
ziehen, die hente die Wirkung der Maske auslösen. Da ist zum 
Beispiel das Grammophon, die Moske der Stimme, das elek- 
trische Plakul, oder das Sprachrohr. Die Dursteller müssen un- 
dimensionierte Gesichter-Masken tragen, in denen der Charakter 
grob-äusserlich schon erkennbar ist: ein zu grosses Ohr, weisse 
Augen, Stelzbeine. Diesen physiognomischen Übertreibungen, 
die wir selbst notabene nicht als Übertreibungen auffassen, ent- 
sprechen die inneren der Handlung; die Situation möge kopf- 
stehen, und oft möge, damit sie eindringlicher sei, ein Ausspruch 
mit dem Gegenteil ausgedruckt werden. Genau so wird es wirken, 
wie wenn man lange und fest auf ein Schachbrett sieht, und 
einem bald die schwarzen Felder weiss, die weissen Felder schwarz 
erscheinen: es überspringen einander die Begriffe, wo man an 
die Wahrheit grenzt. 

Wir wollen Theater. Wir wollen unwirklichste Wahtheit. 
Wir suchen nach dem Überdrama. 



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DER UNSTERBLICHE 
ZWEI AKTE 



HANDELNDE: 

DER MUSIKER SEBASTIAN 
OLGA 

BALLON, PHOTOGRAPH 
HAUSBESITZER LUPUS 
DER BBÄUTIGAM 
DIE BRAUT 
HEBR IM ZYLINDER 
DER STEUEREINNEHMER 
EIN SCHUTZMANN 
EIN VOLKSREDNER 
EIN KONDITORJUNGE 
VOLK 



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ERSTER AKT 



Das Atelier eines Musikers und Instrumentener- 
finders. Überall verstreut Notenbücher, Geigeitkä- 
sten und mehr. An der rechten Wand, vor einem 
gotischen Fensler, ein grosses braunes Pianola, ei- 
nem Harmonium ähnlich. Links grosses Fensler, 
mit Aussicht auf einen Boulevard, auf dem die 
ganze Dauer des Stücks hindurch Bewegung von 
Menschen und Wagen ist : Diese kann durch einen 
Film vorgetäuscht werden. Die Mittelwand ist -weiss 
getüncht und leer: auf ihr erscheinen, je nach An- 
gabe, mittels Films, grosse Plakate, Zeitungsaus- 
schnitte oder richtige Filmphotographien. Seba- 
stian und Olga stehen im Atelier. 
SEBASTIAN: Ein Bettler bin ich in Seele und 
Portemonnaie, / Ich werde dich niemals ins 
Cafe Astoria führen! / Ein Schuft, wer nicht 
angelisch (jeniesst! , OLGA hal einen grossen 
Bergcre-Slrohhut in der Hand, mit dem sie über- 
eifrig zum Fensler hinauswinkt. Man sieht auf dem 
Trottoir, neben einer Laterne, einen Leutnant starr 
zum Zimmer hereinblicken: Ich Hebe dich. Aber 
wie halt ich es aus / Ohne Eiskaffee und ohne 
denNeidblickderkleinenRosheim , : Bedenke: 
meine neue Bluse! Sie beugt sieh zum Fenster 
hinaus Ich liebe dich. ,' Schau wenigstens nicht 
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her, dass dein gutes Herz nicht blute! / Du 
bist ja mein Künstler, mein göttlicher Zuhäl- 
ter. Sie wirf) dem Leutnant eine Kusshand zu. Du 
wirst leiden : das ist deine Grösse! / Du wirst 
Symphonien schreiben! Sitzt mein Bolero? 
SEBASTIAN: Bleibe, noch bist du meine Jung- 
frau. ' Ist das ein ehrlicher Kampf? Alle Ka- 
valleristen / Und alle blonden Liftboys, wie 
mit rasenden Engeln / Muss der Märtyrer kon- 
kurrieren. Ich bin kein Mensch! / Geliebteste 
Olga ! Er geht ans Pianola und schlägt einen Tril- 
ler an. Hörst du das Tremolo? Was vermögen 
die Frühliugshiigel dagegen. / Ich stelle dich 
über alle Geliebten, über die Duse / Und 
über die Prinzessin von Sachsen und Beatrice 
und . ■ ■ Inzwisclien hat Olga so lange hinaus- 
getvinkt, bis sie schwebend hinausfiel. Sebastian ist 
in seine eigene Ekstase geraten und spielt die Melodie 
und singt, indem er die Fusstasten bewegt: „Mein 
Herz, das ist ein Bienenhaus". Unterdessen ver- 
sammeln sich die Leute vor dem Fenster, man 
bemerkt unter ihnen den Konditorjungen, den 
Herrn im Zylinder, und einen Schuttmann. 
Hast du gehört? Ich tröste dich, armseliger 
Passant. / Komm, und höre die Süsse der 
Schm erzen s-Töne. / Geschmeidig, wie ein Dis- 
kuswerfer, entlasse ich / Dich Strassenlied an 
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die Menschheit. Sieht es nicht aus, / Als um- 
armte ich euch . . . KONDITORJUNGE : Wissen 
Sie, dass Ihre Braut nach Apulien gefahren ist?/ 
Sie stieg in einen glühenden Express. Aber sie 
hatte eine Trane / An der geschminkten Wim- 
per, als sie diese Meringe kaufte, / Die sie 
Ihnen noch schenken wollte ... & stellt ihm 
Kuchen aufs Fensterbrett. DER HERR IM ZYLIN- 
DER: Ich bin Ihr Mäzen. Erkennen Sie mich? 
Er wirft ihm eine Börse zu. Ich kaufe Ihnen Ihr 
Genie ab. / Ich kaufe Ihnen Ihren gesundeu 
Magen ab. / Ich bestelle Ihnen grosse gelbe 
Konzertplakate. Auf der Hinterwand erscheinen 
grosse Plakate; DAS MUSIKALISCHE GENIE. 
SEBASTIAN, BACHS NATÜRLICHER ENKEL! 
Sie sind meine I ndi vidubum ! SEBASTIAN : Mein 
Herr,Gnade! Was babeichlhnen getan! / Er- 
barmen Sie sich : ich bin ein harmloser Künst- 
ler, f Lassen Sie mir meine unerhörte Verkannt- 
heit. / Lassen Sie mir den Schmerz, der mich 
peitscht, / Und den mir die einzige Olga er- 
wies. Lästern Sie vielleicht? SCHUTZMANN : 
Im Namen des Gesetzes: Sie gehören dem 
Staat! / Die Allgemeinheit bat ein Recht an 
Ihnen, / Sie aber haben kein Recht, zu hungern 
und einsam zu sein! DIE MENGE: Die soziale 
Befreiung! Auf der Hintenuand erscheint ein gros- 
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sei Plakat in Rot: DIE SOZIALE BEFREIUNG! 
DIE MENSCHENGÜTE! SCHUTZMANN : Ein- 
sam sein, ist streng verboten! / Ich gebe Ihnen 
einen Verweis! Sie müssen täglich / Ein Beef- 
steak essen und in den Park spazieren! / Und 
ein Minimum von Arbeit! Ein Mann steigt aujs 
Fensterbrett und entfaltet eine Zeitung, so gross wie 
er selbst, es ist der JOURNALIST. Er schreit : Seba- 
stian, der heilige Musiker des Volks! Im selben 

Augenblick erscheint auf der Ilinterwand in schwar- 
zem Zeitungsdruck: SEBASTIAN. DER HEILIGE 
MUSIKER DES FOLKS! JOURNALIST: Hurra! 

Die Menge schreit. Dann verliiujt sie sich. Durch die 
Türe tritt Lupus, der Hausbesitzer, herein. LUPUS: 
Verehrter Meister ! SEBASTIAN: Pardon, Herr 
Lupus, unterschätzen Sie mich nicht. / Seien 
Sie offen. Ich weiss, ich schulde Ihnen sechzig 
Mark. / Ich schufte Tag und Nacht dafür, / 
Ich weiss genau, dass sechzig Mark für so eine 
Tapete / Und solch eine Aussicht, und Mäuse 
unterm Bett ..' Gar nicht zu viel ist. O ich weiss 
alles. Noch zwei Jahre Geduld, mein Herr 
Wohltäter, i Dann hab ich meine siebenund- 
vierzigste Oper fertig! / Herr Lupus! LUPUS: 
(Er hat ein kleines und ein Imndgrosses Ohr, 
das er immer abnimmt, wenn er spricht) Ver- 
ehrter Meister! Er nimmt ein Blatt beschrie- 
benes Papier aus der Rocktasche und liest wei- 

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ter vor. Ich habe Ihre verblüffende Musik 
genossen. Er niest. Pardon! / Sie erweisen mei- 
nem Mietshaus die allergrösste Ehre. / Sie (er 
setzt sich einen Zwicker auf) Sie, Sie . . . ich gebe 
Ihnen / Mein Ehrenwort, dass kein Gerichts- 
vollzieher im Korridor wartet! / Achtung, la- 
chen Sie! Erlauben Siediesen sozusagen: Witz: 
Der Lupus kommt zum Orpheus und weint 
gerührt. Er schnupft sich. Kurz und gut, wir 
sind ehrliche Manner, nicht wahr, / Tüchtige 
Geschäftsleute, mnneschome, / Machen wir 
ein Kompagniegeschäft, / Ich eröffne heut 
Abend im Kellergeschoss / Das grosse ameri- 
kanische Weltvariete / Ihnen zu Ehlen, Ihr 
Genie einzuweihen. / Wollen Sie das neue 
Volkslied vom Bienenhaus spielen / Für zwei 
MilIeGage?/*iuernrf. Na sagen wir, zehn Mille?/ 
Oder elf Mille? Da Sebastian nichts antwortet, 
läuft er rasch zum Fenster und ruft in die Menne: 
Publikum ! Sinke mir in die Arme! / Ich habe 
das grösste Genie entdeckt und gefunden! 
Heraus aus Schlafzimmern, Büros und Tele- 
phon/.ellen .' Zur paradiesischsten der Erden- 
stunden ! £( entsteht sofort ein grosser Auflauf. 

Alle Geräusche der Strasse dringen herein: AuU>- 
hupen, Traingeläut, Kindergeschrei, Kettengerassel. 
Die Ankündigung von Lupus erscheint in brennenden 



elektrischen Buchstaben auf der Hinterwand. Im 
Eifer fällt Lupus zum Fenster hinaus und wird von 
der Menge im Triumph weggeschleppt. Der Lärm 
flaut wieder ab. Der Steuereinnehmer Strohhalm 
kommt zur Türe herein. STROHHALM: Ich suche 
den Herrn Sebastian. SEBASTIAN : Der bin ich. 
STROHHALM stellt sich mit einem Notizbuch au/, 
das er auf einem Karren herbeigeschleift hat: Ihre 
Vor-, Nach- und Mittetnamen! SEBASTIAN: 
Sebastian! STROHHALM: Nehmen Sie sich in 
acht. Ich bin die Autorität, / Wollen Sie mir 
weiss machen, Sie seien schon so gross j 
Wie Charlot oder Goethe, die nur einen Na- 
men tragen? / Ihre Qualitäten, mein Herr! / 
SEBASTIAN zeigt auf Strohhalms grüne und rot- 
gestreifte Mütze: Was bedeutet diese Uniform? 
STROHHALM: Die Steuerbehörde, Herr, die 
Autorität! SEBASTIAN nimmt ihm die Mütze weg 
und setzt sie sich selber auf den Kopf: lind jetzt? 
STROHHALM: Sie vergreifen sich an der öf- 
fentlichen Persönlichkeit, die ich bin! / Wis- 
sen Sie, dass das Majestätsbeleidigung f Der 
Volksregierung ist? SEBASTIAN : Jetzt könnte 
ich Sie besteuern! STROHHALM: Sie haben 
ein Einkommen von zehn Mille. / Sie wollen 
unterschlagen. Er Öffnet seine Ledertasche. Bitte 
zweitausend Märkchen für den heutigen 
Abend! SEBASTIAN schleudert die grüne Mütze 
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zum Fenster hinaus: Vorläufig ist das Geld noch 
in Europa-Aktien angelegt, / In Säuglingen, 
in Bierschoppen und Reformkleidern, / Vor- 
läufig liegt das Kapital noch in der Brust- und 
Lendentasche j Der Herren Metzgernieister 
und Fräuleins Knutschen. (Feist ihm das Fenster, 
das er öffnet. Das Publikum steht draussen! 
Sojort steht die Menge wieder vor dem Haus und 
empfängt den hinaussteigenden Strohhalm mit Ge- 
schrei. Seine Mütze wird umhergeworfen, er selber 
in Stücke gerrissen. VOLKSREDNER steigt aufs 
Fensterbrett, das fortan als Tribüne dient: Genos- 
sen! Eckensteher! Unsere Arbeit-Ehre ist an- 
gegriffen! / Die kleine Staatsgewalt hat unse- 
ren Wundermann . . . Die Menge jubelt ihm zu 
und ruft: SEBASTIAN! UNSER HEILIGER! 
UNSER GENOSSE! In demselben Augenblick erglü- 
hen diese Worte auch auf der Hinterwand. Sebastian 
hat sich indessen, ah ob nichts vorgefallen wäre, in 
seine Musik vertieft und spielt jetzt auf dem Pianola 
die Melodie von: „Mein Herz, das ist ein Bienenhaus' 
und singt dazu: 

Die Welt, das ist ein Kriegs verein, 
Die Menschen sind darin die Brüder! 
HERR IM ZYLINDER: Höre, du Volk, die 
grösste Musik des Jahrhunderts! / Die Feuer- 
wehr spielt einenTusch! Tutch voneinigen Trom- 
peten im Hintergrund. Die Menge heult Die- 



Goll, Die Unsterblichen 



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ser euer Befreier (einige Stimmen: Hurra!) tritt 
heut abend int Weltvariete auf, / Eingang 
Rattengasse, Anfang acht Uhr. Tusch. Redu- 
zierte Preise für Krieger- und Menschenliebe- 
vereine! Tusch. Das Fenster schUcsst sick. Durch 
die Türe kommt Olga herein, lächelnd, mit offenem 
Haar. Hinler ihr Ballon, dich, rotes, kahlgeschore- 
nes Haupthaar, Ziegenbart und weisse vorstehende 
Augen. OLGA mit einer Geste der Umarmung: 
Sebastian, ich liebe dich, / Ich habe dir Lor- 
beer aus Griechenland mitgebracht, / Ach, 
ich vergass, ich habe mich in Kairo verheiratet / 
Mit dem Menschen, der dich am meisten 
liebt, / Nur deshalb! Und bin ich nicht deine 
Begeisterin? / Der Schmerz, der die Meere 
aufpeitscht / Und die Herzen der Menschen 
zum Himmel treibt? Sebastian kiisst ihrdieHand. 

Ballon tritt vor und macht eine Starre Verbeugung. 

OLGA: Mein Mann Ballon ist dir mehr wert 
als ein Volk : / Er ist dein Freund ! Ballon ver- 
beugt sich. Er liebt mich nur, um zu dir zu ge- 
langen / Er ist der gr&sste . . . BALLON die 
Hand auf dem Herzen: Bitte, Madame, bemühn 
Sie sich nicht / Ich kann schon allein. Zu Se- 
bastian. Ich bin ... ich bin / Der erste Photo- 
graph von Kairo. / Ich binSeelenphotograph, / 
Das heisst, ich kann Sie schmerzlos verewi- 
gen, / Sie leben in den Augen und in der Er- 



innerung der Menschheit weiter, ,' Sie selber 
verschwinden aber, der Schmerz verschwin- 
det, / Die ungeheure, dumme Sehnsucht des 
Künstlers. / Sie werden unsterblich im che- 
mischstenSinn des Wortes, / Brom Silberpapier 
und Wasserstoffs« ure, / Kurz: ich filme Sie. / 
Schmerzlos, o schmerzlos. Sie leben ewig / 
Und doch ist Vergessen in Ihnen, Sie haben 
den Vorzug, / Den selbst die Homerischen im 
Orkus nicht hatten, / Meine adligen Ahnen 
verbeugt sic/i Sie vergessen / Olga, meine Frau, 
und sich, meinen Freund, / Ihre Kunst aber 
bringe ich über die Welt. / Eine Frage: Sie 
haben doch noch kein Testament geschrieben? 
SEBASTIAN: Ja aber, muss ich, sozusagen ein 
bisschen, sterben? BA LLON: Wenn manso will, 
einerseits vielleicht ein wenig. Olga hat sich in- 
zwischen auf einen Diwan gesetzt und winkt zu Bai- 
Ion hinüber. Dieser rückt ihr näher. OLGA : Tu es, 
Sebastian, er hat mich ja lieb. BALLON: Ver- 
stehen Sie, mein Freund. Er ist bei Olga ange- 
langt und Jasst sie um die Taille. Sie umarmt ihn, 
Ballon weiter zu Sebastian. Ich habe Sympathie 
füralle grossen Männer. / Obwohl ich die Kunst 
an sich verachte, / Die Erdbewegung Ballon 
macht sich von Olga los, nimmt aus einem kleinen 
Ko ffer ein Grammophon heraus, legi eine Platte hin- 



ein, dreht sie auf und kehrt dann schnell in Olgas 
Arme zurück. GRAMMOPHON: Die Erdbewe- 
gung ist die eines Automa . . ma . . ma . . rrr 
BALLON: Warten Sie ein wenig Er springt wie- 
der auf vom Diwan und sieht das Grammophon von 
neuem auf. Dann zu Olga zurück, wie vorhin. 
GRAMMOPHON: . . . inaten. Der Maler malt 
Synthesen an die Wand. ,' Der Dichter glaubt, 
mit Worte-Flügeln zu Gott zu gelangen, / Aber 
verlangt denn der Bürger, der das alles be- 
zahlt, / Verlangt er denn da . . da . . da Das 
Grammophon stockt wieder. Baiton, der sich inzwi- 
schen in einen Kuss Olgas verließ hat, springt be- 
stürzt zum Grammophon und dreht es auf mit den 
Worten: H'arten Sie ein wenig! Das? Der Bürger 
will sich begeistern, um besser schlafen zu kön- 
nen, / Er will Apparate, patentiert, diplomiert, 
prämiiert . . . / Deshalb verachte ich die Kunst, 
die zum Himmel flennt / Und nicht mit der 
Verdauung rechnet . .rrr. . BALLON steht auf: 
Die Platte läuft hier ab. Schade. So interes- 
sant! / Bitte, noch einen Moment. Sehen Sie, 
wie unsere / Gemeinsame Göttin Olga jauchzt! 
Sind Sie nicht glücklich ,' Uber das Glück, das 
ich ihr bereite? / Genug jetzt, zu den Geschäf- 
ten! Er zieht seine Brieftasche hervor. Wissen Sie 
auch, dass Ihr Volkslied / Ein Plagiat ist? Im 
Zeitalter der Sentimentalität / Sangen es die 



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HUrchen und die Bienen. / Das aber bedeutet 
nichts. Sie sind ein Genie, die Feuerwehr / Hat 
darauf Tusch geblasen und es sanktioniert. / 
Sie verdienen elf Mille Gage, das ist nicht 
viel, / Wo die Vogelsträusse alle ihre Federn 
verkauft hahen / Cnd Olga ohne Hut ist, unsre 
Geliebte. / Geben Sie mir Ihre Seele, Ihre 
Kün stlerseele Für zwanzig Mille? Na, sagen 
wir, fünfundzwanzig? Olga liebt Sie ja! 
OLGA: Und treu bis in den Seelentod! SEBA- 
STIAN: Nicht mehr leben müssen ! Nicht mehr 
krampfhaft einschlafen müssen, j Einen Palelot 
tragen müssen, dem jeder ansieht, dass er ab- 
geschabt ist, Nicht mehr sich sehnen müssen, 
auf Pianolas stampfen, / Und Kalhsfüsse mit 
Ragout essen müssen; / Seligkeit, mein süsser 
Engel Ballon, und namenlos! Er umarmt ihn. 
Ballon nimmt ein Paket Bankscheine aus seiner Brief- 
tasche und überreicht sie Sebastian. Im selben Au- 
genblick erscheinen auch a5 braune Scheine auf der 
Hinterleimvand. BALLON indem er sich qross vor 
Sebastian aufstellt: Übrigens, haben Sie schon 
meine Krawatte gesehen? Lyoner Seide. , Sehr 
preiswert. Und meine Krawattennadel? Der 
grösste Diamant der Welt: den Regenbogen / 
Und alle Brunnen von Versailles hat er in sei- 
nen Spiegelungen. / Das ist aber . . . schauen 



Sie hin . . . schmerzlos geschieht's, / Wie Ihre 
Seele in diese kleine Linse / Von einem Pho- 
tographenapparat, da unter meiner Hemd- 
brust . . . / Ganz schmerzlose Operation : ster- 
ben Sie bitte / Und hauchen Sie mir Ihre wert- 
volle Seele / In den Kasten . . . Sebastian jällt 
ihm kraftlos in die Arme. So. Wir haben die Frei- 
heit und seine Musik dazu geerbt, / Wir wer- 
den Millionäre . . . Ballon entreisst Sebastians 
steifer Faust die Batikscheine. OLGA: Lass mich 
nur drei Tränen weinen! BALLON: Erstarb 
an Hypertrophie des Kleinhirns. OLGA: Lass 
mich noch einmal in Ohnmacht fallen, / Das 
bin ich dem Vergessenen schuldig, / Aherauch 
dem Publikum. Sie verneigt sich artig. 



I'orfuiiu). 



ZWEITER AKT 



Derselbe Raum wie im ersten Akt, nur dass anstellt 
des Pianolas ein riesengrotser Photographenkasten, 
anstelle der Miisibioten Kopierrahmen, Fiiiseh- 
c/ten und alles Zubehör eines Photoniapl.ie-Atelieri 
stehen. Auf der Hinterwand liest man die Annonce: 
SEEL EN PI! OTOG RA PH JE 
PAS DUTZEND . EINE MARK ZWANZIG 
Beim Aufgehen des Forhangs kniet Ballon, der einen 
weissen Kittel trägt, vor Olga, die am Fenster steht 

■ und hinausblickt. 
BALLON die Hand auf dem Herzen. Nun liebe 
mich! OLGA; Sehnsucht, du einzige! Wo ist 
Sebastian? BALLON: Du beleidigst mich! 
OLGA: Sebastian starb! Die Sterne weinen es. 
Wo weilst du? / O fremder Mann, wann ent- 
führst du mich? BALLON ; Ich hätte ihn nicht 
töten sollen. / Was nützt mich der Besitz, 
nur in der Sehnsucht liebt das Weib. / 
Die Gefängnisse sind auch heutzutage zu 
feucht. / Und der Rheumatismus ist erb- 
lich in meiner Familie. / Was kann mir 
aber passieren? Nicht wahr, / Seelen zu 
morden, zu unterschlagen, ist nicht strafbar. / 
Ich stahl ihm keinen braunen Pfennig, nur 

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seine blonde Geliebte, ' Und das ist nicht straf- 
bar! / Daruber schweigen die Menschen und 
die Gesetze / Mit niedergeschlagenem Aug', 
denn noch schämen sie sich. OLGA träumerisch 
am Fenster: Deine schwarzen Locken, wie 
dunkle Pinien am Kaukasus / Ich war die 
weisse Nymphe im Bad deiner Augen. Tritt 
zum Spiegel. Bin ich schön? Der sieht meine 
Schönheit nicht, der mich besitzt! / Blond ist 
die Eroberte nur, aber golden die Ersehnte. / 
Lass mich ziehn, lass mich fliehen ! J Über die 
toten Berge der Wirklichkeit / Flammenden 
Wolken der Sehnsucht entgegen. Wie im ersten 
Akt erseheint der starre Ijtutnant auf der Strasse 
und winkt. Sie beugt sich hinaus. BALLON: Du 
willst mich verraten! Untreue! Eifersucht ' 
Kreischt in meinem Blut. Ich befehle dir, liebe 
mich! OLGA: Ich möchte auf einem Nildamp- 
fer fahren, 1 Den Sphinxen zu Füssen! Ist es 
wahr, dass Sebastian / Nicht tot ist? BALLON: 
Seine Seele liegt hier er schlägt sich auf die Hemd- 
brust Dieser Liliput-Photographenapparat / Ist 
meine Pandorabüchse, voll höllischer Zwei- 
fel. | Heut Abend muss ich ihn dir wiederge- 
ben, deinen Sebastian, / leb lass ihn im Welt- 
variete" auferstehn. Ein Hochzeitspaar tritt herein, 
der Bräutigam im schwären Frack und roten Stülp- 

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Handschuhen, die Braut im Strassenkostiim, nur die 
MyrthenkroneimHaar. Im selben Augenblickßamint 
das Pia in tauf der Hin teruiandin alienbunten Farben , 
BRÄUTIGAM: Wird man hier verewigt? Die 
Braut kichert. BALLON: In allen Posen. Wollen 
Sie Oktavbild oder K abinett./ WoIIenSie Brust-, 
Leib- oder Standbild? BRÄUTIGAM: Wirklieb 
verewigen? BALLON: Bis ans Ende aller Zu- 
kunft und Niederkunft! BRAUT sieht an. sich 
herunter: Oh, merkt man schon was? BRÄU- 
TIGAM: Also bitte nur kein Leibbild ! / Ja, aber 
Kopf bild, das sieht aus, als würde mau geköpft ! 
BALLON: Sozusagen eine illusionäre Guillo- 
tine. / Aber ganz schmerzlos. Ausserdem ver- 
kaufe ich Berühmtheit, / Sie werden mit Ihrem 
Kopf in allen Schaufenstern hängen, / Und in 
den roten Plüschalbums. / Ihre Enkel werden 
Sie noch mit Marmeladefingern streicheln: /' 
Sie werden verewigt sein. BRÄUTIGAM: Sie 
machen auch Seelenphotographie? BALLON: 
Nur von Genies. Sonst trägt es nichts ein. 
BRAUT: DerFelix ist ein Genie. BRÄUTIGAM: 
Aber meine Seele behalt' ich lieber. BALLON : 
SindSie etwa Musiker? BRÄUTIGAM: Ich jodle 
nur. BRAUT: In seinem Fach ein Genie! Ge- 
wiss! Inzwischen ist Olga -um Diwan gegangen und 
macht dem Bräutigam vertweifelte Zeichen. Dieser 
bemerkt sie und geht hinterrücks in ihre Nahe. 



BRÄUTIGAM zu seiner Braut: Amalia, du Herr- 
liche! Wir müssen einmal einsam sterben. / 
Wir müssen uns einsam verewigen lassen. Die 
Verheirateten / Schlafen vielleicht in einem 
Bett, aber in getrennten Särgen . . . Er ist bei 
Olga angelangt. Sie wirft ihm eine Kusshand zu. Er 
Stürzt sich sofort auf sie und erfasst ihre Brüste. 
OLGA : Liebling, willst du mit mir entfliebn? / 
InChikago, auf der Terrasse des l'alace- Hotels / 
Gibt es die besten Auslern. O meine Sehn- 
sucht! BRÄUTIGAM: Omein leises Engelchen / 
Deine Ärmchen sind wie Flügelchen. / W : ir 
könnten wohl mitten im Frühlinglein / Flie- 
gen auf ein Hügelein! Er jodelt. OLGA: Ich bin 
selig. Ballon hat sich an seinem Apparat zu schaf- 
fen gemacht. Während der obigen Szene ist er unter 
das schwarze Tuch geschlüpft. Die Braut blieb starr 
in der galanten Pose, die er ihrem Gesicht gegeben 
halle, dem Fenster zublickend. Vorher hatte er noch 
das Grammophon liervorgeholt, das immerzu meckert : 
Bitte lächeln! Bitte recht freundlich! BRAUT steht 
plötzlich auf : Karl, ich hab' Angst! Ich will 
nicht! / Ich hin verlassen I Wo ist die Polizei! 
Sie reisst das Fenster auf. Mord! Mord! Lassen 
Sie mich, Sie Verewiger / Sie Seelentöter! Sie 
haben ja keine Haare! Die Menge erscheint auf 
der Strasse. Lupus steigt aufs Fensterbrett und be- 
ginnt zu reden. LUPUS: Wo ist Sebastian? Man 



hat mir mein Kapital entwendet! , Ich habe 
das Variete umsonst erbaut! / Er ist getötet! 
Meine elf Mille, / Und die Programme sind 
schon gedruckt! Auf der Hinterwand erscheint 
das Plakat vom ersten Akt. Ballon hat schnell de» 
Photographenkasten umgeworfen und aus einer Eck* 
das Pianola hervorgeholt, sich daran gesetzt und das 
Lied vom Bienenhaus gespielt. Alles ist in Ekstase 
BALLON: Herren! Kameraden! Neidlinge! I 
Habt ihr das Genie spielen hören? Ist er tot* | 
Ich leugne es. Lupus ist ein Verleumder! / Und 
doch, vielleicht ist er tot: aber heut abend / 
Werde ich den Meister auferstehen lassen! 
Auf der Hinterwand erscheint die neue Reklame: 
TO TENER WECK UN G ! DIE KUNST LEltT 
EWIG! GOTT SEBASTIAN DEN BÜRGERN! 
Kommen Sie alle zum Galaabend! Beginnt in 
dieser Minute! / Sebastian, erscheine! So ruf 
ich dreimal, / Wenn alles an der Kasse Billette 
gelöst hat . . . LUPÜS neigt sich an Ballons Ohr 
Gutes Geschäft! Machen wir Kompagnie? 
GRAMMOPHON von Ballon aufgestellt: Beginn 
der Vorstellung! / Das Genie hat bis jetzt ge- 
schlafen. / Es hat neue Symphonien erträumt. / 
Die geniale Liebhaberin Olga ist von ihrer 
Hochzeitsreise / Zum Gaurisankar zurückge- 
kehrt! SEBASTIAN erscheint auf der Hinterwand , 
im Film: Olga, Geliebte, gib mir Schmerz! Lass 
27 



□igifeed t>y Google 



mich leiden! I Wo ist die Einsamkeit? Noch 
immer die Menschen ! OLGA : Sehnsucht war's, 
die dich zurückgerufen, / Sehnsucht, die dich 
morgen wieder tötet, / Ewig Geliebter! Die 
Feuerwehr spielt den Trompetentvsch. Der Offizier 
kommt jeUl leibhaftig herein und Itüsst und ent- 
führt sie. 

Forhang, 



DER UNGESTORBENE 
ZWEI AKTE 



HANDELNDE: 

DR. GOLFSTROM 
VERONIKA, SEINE FRAU 
VON KÄSE, JOURNALIST 
HERR PUBLIKUM 
FRÄULEIN TEETANTE 
EIN STUDENT 
KELLNER 
SCHUTZMANN 
DAS PLAKAT 
DREI LITFASSSÄULEN 
DREI HOTELGÄSTE 
DIE MORGENZEITUNG 
VOLK 



ERSTER AKT 



Vorraum zum Uraniasaal. Die ,Kasse", an der 
das Publikum vorbeigeht in den V Ortragssaal. 
Hinter dem Kassentisch sitzt Veronika und zählt 
die Karten und dos eingenommene Geld. Das 
P fäkal, in Lebensgrösse, rosa und grün, steht 
steif an der Wand. Auf seinem Bauch stellt geschrie- 
ben: VORTRAG DR. GOLFSTROM. DER ÜBER- 
MENSCH VON MORGEN. ZUM EWIGEN FRIE- 
DEN. ZUR FREIHEIT ALLER MENSCHEN. 

VERONIKA : Dreizehn Mark fünfzig! Zwei 
erste Plätze verkauft. Gutes Geschäft. Die 
Menschheit ist ein fettes Säugetier. DAS PLA- 
KAT: Erster Platz. Nur weil Plüsch auf den 
Stuhlen ist.' Zum Lachen. Und so ein Quatsch. 
Was erwartet die Menschheit? VEItONIKA 
zählt immer wieder: Dreizehn fünfzig. Schon ist 
die rote Bluse rausgeschlagen. Die war zwölf 
fünfund neunzig heiTietz. Die Litjasssniiten kom- 
men zum Portal herein und beginnen einen Dreh- 
tanz. Sie kreisen um sich selber. Neben jeder eine 
hohe Laterne, die ihr Auge gelb auf- und zuschlägt. 
Sie rollen über die Bühne wie edle orientalische 
Damen, denen die Träger helle Sonnenschirme nach- 
tragen. LITFASSSÄDLE VOM POTSDAMER- 



PLATZ: Der Erlöser ist niedergekommen! 
Berliner, ihr sollt wieder Menschen werden ! 
LITFASSSÄULE VOM HALLESGHEN TOR: 
Nieder die Malthusgötter 1 Die Massenmörder! 
Der Obermann mit dem lautenden Herzen. 
Neue Dome erlieben sich heute Abend. LIT- 
FASSSÄDLE VOM ALEXANDERPLATZ: Die 
elfte Stunde hat geschlagen! Gott ist auf seiner 
letzten Etappe zur grossen Befreiung! VON 
KÄSE kommt eilig herein: Schon angefangen? 
Im Nu sind alle Litjasssäulen um ihn geschart und 
kreist». Von Käse hält sich die Ohren tu. VON 
KÄSE: Zum Teufel Reklame! Weiss ich schon. 
Die Menschen befreiung, muss die absolut heut 
sein? Hättet mich lieber Poker spielen lassen. 
VERONIKA lächelnd: Noch erste Platze frei, 
mein Herr. VON KÄSE: Leider bin ich Jour- 
nalist. Zieht eine Karte lieraus. VERONIKA: 
So? Sie lüßet ein wenig ihre Bluse. Sie 
kennen sicher den Aufsatz meines Man- 
nes. «Sie spielt mit ihrer Armbanduhr aus Email. 
Gott, es ist schon spät. Hat vielleicht 
doch keinen Zweck, hineinzugeben. VON 
KÄSE: Sie hören auch nicht zu, Madame? 
VERONIKA : Ich bin schon befreit. VON KÄSE: 
Wenn ich recht verstehe . . . Nun ja, Doktor 
Golfstrom ist ein grosser Mann. Wie sollte er 
3a 



Eicht eine grosse Frau haben. VERONIKA 

lächelt von vnten herauf: Sie finden ? VON KÄSE : 
Aber Sie sehen so traurig aus ! VERONIKA seufzt. 
VON KÄSE: Sie lieben mich! VERONIKA: 
Mein Herr, ich glaube, Sie erlauben sich ! 
VON KÄSE: Nun gut, fangen wir's anders an. 
Obschon, wenn man so eine rote Bluse hat . . . 
Die Litjasssäulen beginnen wieder zu kreisen und 
stimmen einen Klagegesang an. LITFASSSÄULE 
VOM I! ALLESCHEN TOR : Kauft lieber Schuh- 
creme Lanolin! LITFASSSÄULE VOM POTS- 
DAMER PLATZ: Morgen Film vom lieben 
Augustin ! Die Litjasssäulen stürzen alle tot zusam- 
men. DAS PLAKAT: Gebt mir schnell ein A- 
spirin! Fällt gleichfalls zusammen. VERONIKA: 
Nichts ohne Geduld, mein Herr. VON KÄSE 
in Positur: Ihr Gemahl, der verehrte Herr 
Goldfisch, eh vielmehr, Golfstrom, ist ein 
sehr . . . VERONIKA ; Langweilig ! VON KÄSE: 
Ja 50. Er nimmt eine andere Pose an. Ich pfeife 
auf Menschenrechte. Alles ein Pack. VERO- 
NIKA lächelnd: Bitte, noch nicht. Das Plakat 
hört zu. VON KÄSE ausser sich: Ich werde einen 
dunkelroten Kuss in deinen Nacken setzen . . . 
VERONIKA : Sie empören mich! VON KÄSE: 
So sagte ich gestern abend dem Stubenmäd- 
chen vom Hotel Splendid. VERONIKA: Ver- 

3 Göll, Die L'n «erblichen 33 



zweiflung! Sie iveint undzerreisst ihr Taschentuch. 
VON KÄSE m Ekstase: Heissgeliebte, ich entfüh- 
re dich! VERONIKA: Ist das Auto draussen? 
VON KÄSE fällt in die Knie: Das ist Befrei- 
ung! Die Saaltur ößnet sich. Ein Gigant: Herr 
Publikum, gefolgt von Fräulein Teetante und dem 
Student, strömt heraus. Er hat lange Dackeloliren, 
herausstehende Froschopernglasaugen, und schwitzt 
in seinem Smoking, der ihm immer zu eng ist. HERR 
PUBLIKUM: Das ist wahres Karlsbad! FRL. 
TEETANTE : Genie! Kennen Sie Pascal? Ich 
lasheutiniLaroussedessenberühnitenSatz:Les 
maladies sunt l'etat naturel des hommes. 
STUDENT mü offenem Mund: Was meinen Sie 
damit? FRL. TEETANTE: Dass sie ein Grün- 
schnabel sind. HERR PUBLIKUM: Golfstrom! 
Golfstrom ! Seit heut Abend weiss ich : Der 
Krieg ist eine erhabene Sache! STUDENT: 
Pardon, Herr, Golfstrom sagt genau das Gegen- 
teil. Er behauptet doch, dass die Neger uns 
überlegen sind! HERR PUBLIKUM: Behauptet 
er das? So ist meine Behauptung richtig: Krieg 
ist eine erhabene Sache! STUDENT: Dies ist 
doch eine Sitzung gegen den Krieg! HEBR 
PUBLIKUM : Gegen den Krieg : das heisst doch : 
Für den Krieg! Wer gegen den Krieg ist, leug- 
net doch von vornherein seine Existenz! Siehe 



34 



Philosoph Salomo Eff. Also ist Golfstrom für 
den Krieg ! Verlassen Sie sich drauf! STUDENT 
greift sich an den Kopf und reisst sein Hirnunterm 
Hut hervor. Er wirft es Herrn Publikum ins Gesicht. 
Es ist doch nichts mehr zu machen! Dr. Golf- 
strom erscheint. Tragt einen ofcnrolirhoken Zylinder. 
< in.cn Srliiititbaixhtuaii-.-Gehrock, ival/enden schwar- 
zen Mayierbart, Krawatte, Hände und Schuheinsatz 
weiss. Er schleppt neben sich eine zwei Meter hohe 
Aktenmappe. DU. GOLFSTROM: Sieg! Der 
Mensch liegt platt. Mit Telefunken meines 
Geistes erlegte ich seine flüchtige Seele. HEHR 
PUBLIKUM: Ich bin gerührt! DR. GOLF- 
STHOM: Das war der Rede Zweck keines- 
wegs! Die Eingeweide wollt' ich aus Ihnen 
reissen! HEÜR PUBLIKUM: Sehr nett, mein 
Herr! DR. GOLFSTROM : Ich bin Tuba der 
Zeit! Blasender Engel. Ich prophezeihe die 
Tat in zweilausend Jahren. STUDENT : Ja, 
aber ... ach so mein Hirn. Er hebt es auf. DR. 
GOLFSTROM: Sind Sie nicht meiner Ansicht, 
Fräulein Teetante? FRL. TKETANTE: Wie soll 
ich das wissen? Die Kritik erscheint doch erst 
morgen früh im Morgenblatt ! DR. GOLF- 
STROM wie sich erinnernd : Ja, richtig, die Jour- 
nalisten! Mit Emphase. Ich empfange. Zu von 
Käse, ah wäre ein ejanzer Schwärm von Menschen um 
ihn: Schreiben Sie. meine Herren, oder viel- 
r 35 



mehr, telegraphieren Sie. Der Eiffelturm dienst 
steht mir zur Verfügung. Er $tülpt sich einen Tele- 
graphisten/ielm um. Ich würde also sagen : Der 
Übermensch von Morgen ist heute nacht er- 
schienen. Zu Berlin im Uraniasaal. Er sprach 
die erlösenden Worte des neuen aufbauenden 
Geistes. Der Geist: das ist die grosse Erfindung 
unseres Jahrhunderts, ja so ungefähr drückte 
ich mich aus. Er trocknet sich die Stirn mit einem 
gelbgestreiften Kinderbeltlaken. Ein Biese, der sein 
Herzblut für die leidende Menschheit . . . Wa- 
rum schreiben Sie nicht? VON KÄSE: Ver- 
zeihung, ich wollte Sie en passant fragen, sind 
Sie lebens versichert? DB. GOLFSTROM: Ich 
bin unsterblich, mein Herr! VON KÄSE: Das 
ist eben die Frage! hangt ganz von mir ab, ob 
ich das Feuilleton für die Morgenzeitung 
schreibe oder nicht. Und das wissen Sie, wie 
für die Stimme der Schallraum, ist die Kritik 
die lebensnotwendige Atmosphäre des öffent- 
lichen Menschen. Ohne mich kein Duhm! 
DR. GOLFSTROM : O Sie wollen mich berühmt 
machen! VON KÄSE: Bin zwar nur ein armer 
Journalist. Im Nebenberuf, tagsüber, Lebens- 
versicherungsagent. Sozusageu Ihr geschäft- 
licher Bruder. Was Sie mit der Idee bezwecken, 
mach ich mit einem Blatt Papier, das man 
36 



Prämie nennt, leb mache die gewagtesten 
Diagnosen. Sie, liebes Genie, dürfen sieb nicht 
übermilden, Sie leiden an Herzschwund. Hat 
zwar jeder, der die Menschheit zu lieben 
vorgibt, aber bei Ihnen . . . Also nehmen Sie 
sich in acht. Sie haben ein Weib und . . 
DR. GOLFSTROM: Ach ja, meine Frau! Haben 
Sie ihre rote Bluse gesehn? Zwölf fünfund- 
neunzig beiTietz, herrlich, wie? Beste Reklame, 
unter vier Augen. Sagen Sie, wer käme in ei- 
nen Vortrag Uber die Freiheit des Menschen, 
wenn die Kassendame nicht . . . kichert VON 
KASE: Immerhin, Sie riskieren Ihr Leben! 
DU. GOLFSTROM trällert nach einem Gassen- 
hauer: O Veronika, wär ich mit dir in Verona! 
VON KÄSE händigt ihm ein P ap ie>- ein: Also die 
Versicherung lautet auf fünfmalhunderttau- 
send. Zufrieden ? DR. GOLFSTROM : Sehr gut. 
Sie können an der Kasse den Vorschuss ab- 
heben. Ich glaube, dreizehn Mark fünfzig sind 
vorhanden. VON KÄSE: Ich schreibe Ihnen 
auch den grössten Leitartikel. Überschrift: Der 
Golfstrom aus seinem Lauf getreten. Der Golf- 
strom umarmt die Welt! DR. GOLFSTROM: 
Ich liebe Sie! VON KÄSE; Oder noch eine Idee: 
sterben Sie doch gleich heut Abend. Das ver- 
tausendfacht Ihren Ruhm. Geschieht im Feld- 

37 



dienst der Menschheit. Ihre Frau wird dadurch 
glücklich in den Besitz der Versicherungs- 
summe kommen. Ihr Name wird unsterblich. 
Was ist ein Menschenleben heutzutage ohne 
den dazugehörigen Todesfall! Kein Mensch 
glaubt an Sie, wenn Sie nicht dafür sterben 
können. Die Welt reklamiert Helden, ich rate 
Ihnen freundschaftlich: sterben Sie! HerrPub- 
likum ist noch da. Er kann beiwohnen. Ein 
Schlaganfall mitten im Trancezustand. Sie ru- 
fen: Menschheit! Das genügt. Man wird Ihnen 
Statuen setzen. DR. GOLFSTROH: Sie haben 
nicht unrecht! VON KÄSE: Reden Sie zuerst 
die ganze Nacht. Bekommen Sie Ihren Schlag- 
aufall im Augenblick, in dem die Morgenzei- 
tung morgen früh ausgetragen wird. Sie kön- 
nen dann erleben, oder in diesem Fall, erster- 
ben, dass in allen Postanstalten, in allen Dro- 
gerien, Wirtschaften und Flugballen Ihr Name 
ausgerufen wird. DR. GOLFSTROM: Famos. 
Ich will . . . Die Litfasssäulen rollen wieder über 
die Bühne und drehen sich von neuem. Das Plakat 
richtet sich wieder auf und schreit rosa lindgrün: 
ZWEITER FORTRAG DES DOKTOR GOLF- 
STROM, NACH DEM ER SICH ÖFFENTLICH 
FÜR DIE MENSCHHEITSIDEE ZU STER- 
BENVERPFLICHTET. EINTRITT DOPPELT. 



38 



NACHTSITZUXG. Die Saaltür Öjnet siel.. Herr 
Publikum steigt auf die Bänke, um besser zu sehn. 
VERONIKA an der Kasse: Noch einige erste 
Plätze frei. STUDENT: Kann ich Sie in zehn 
Minuten, nach Beginn, hier treffen? . . . 
VRRONlKA:NebmenSieeinBillet?8TÜDENT: 
Nein, nachher, ich möchte ... DR. GOLF- 
STROM: Meine geliebte Veronika, ich will 
Abschied . . . VERONIKA : Was wünschen 
Sie, mein Herr? Sie stebn dem Publi- 
kum im Weg. Nicht soviel Umstände. DR- 
GOLFSTROM: Ach so. Publikum! Geschäft! 
Herrliches Weib! (zu ihr gewendet) Aber 
ich werde jetzt doch sterben! HERR PUR- 
LIKUM im Saal, scharrt und murrt DR. GOLF- 
STROM: Man ruft mich! Mein Ruhm! Fürdie 
Menschheit! In den Tod! Golfstrom nimmt mit 
heroischer Geste seine Aktenmappe und schreitet in 
den Saal. Die Türen schliessen sich hinter ihm. Das 
Plakat fällt zu Boden VON KÄSE hinter der Kasse: 
Das blaue Auto wartet. VERONIKA wirft sich 
an seinen Hals Ins Splendid, schnell, mein ge- 
liebter Goldkäfer du! 

V erhäng. 



3, 



ZWEITER AKT 



Vestibül im Hotel Splendid. Sechs Uhr früh. Die 
Stühle stekn auf den Tischen. Der Kellner fährt in 
Pantoffeln umher. Dr. Golfstrom erscheint, über- 
nächtig, ganz durchnässt vom liegen, den Zylinder 
halbiert und aufgerissen. 

DR. GOLFSTROM: Ich bin nicht gestorben! 
DElt KELLNER: Das merkt man. Ick ooch nicb . 
Er trällert : O wär' ich im Schauhaus und nicht 
in diesem Scbauerhaus! DR. GOLFSTROM: 
Ich komme direkt aus Todesgefahr, mein Bru- 
der! KELLNER: Da hahense Glück. Das ist 
doch 's Radikalleben! Das ist doch 's Umge- 
kehrte von Lebensgefahr, wie? DR. GOLF- 
STROM: Bei Kellnern Logik lernen! KELL- 
NER: Und denn, seit wann bin ich Ihr Bruder, 
Sie? Das ist eine Gemeinheit, eine Beleidigung. 
Ich rufe die Polizei! DR. GOLFSTROM: Schi- 
kanieren Sie doch die Polizei nicht. Sie sind 
doch ein anständiger Bürger. Wozu den 
Schutzmann bemühn! KELLNER schreit immer 
aufgebrachter: Ich ein Bürger? So eine Be- 
schimpfung ! Da soll Sie Er dringt auf Golfstrom 
ein. Bei dem Geschrei öffnen sich langsam alle Türen 

4° 



rings im Hotel. Zimmer 7: ROTES PYJAMA: 
Wer schreit? Ist das Revolution? Zimmer 34-- 
WEISSE HEMDHOSE: Hat mich mein Mann 
entdeckt? Zimmer i3: BLAUER SCHLAFROCK: 
Lasst mich doch brommen, brommen, brom- 
men! DR. GOLFSTROM steigt auf einen Tisch. 
Meine Damen und Herrn, genieren Sie sich 
nicht. Sie haben gut geschlafen, ich aber bin 
nicht gestorben, wissen Sie das schon? ROTES 
PYJAMA: Hatten Sie sich vorher überlegen 
sollen! WEISSE HEMDHOSE: Mein Beileid! 
Mein Beileid! BLAUER SCHLAFROCK: Som- 
men! Schnarchen! Sommen! Schnarchen! Er 
schlägt die Tür :u. DR. GOLFSTROM: Gewiss 
ist es schade. Ich hatte eine ethische Sendung, 
ich hab es nicht übers Herz gebracht, denn 
meine Frau . . . ROTES PYJAMA: Sonst ist 
nichs geschehen? Sie sind langweilig. O wie- 
der Milchkaffee mit Butler und Honig trinken 
müssen! Noch immer keine Revolution! Sie 
schlägt ihre Tür zu. WEISSE HEMDHOSE: Sie 
sind ja gar nicht mein Mann. Er wird mich 
nie finden! Und der andere schnarcht da ! O 
ich verlassene, unglückliche Frau! Sie schlägt 
die Tür hinler sich zu. DR. GOLFSTROM : Kell- 
ner! KELLNER: Ich bin doch Ihr Bruder! 
Was herrschen Sie mich so an? DR. GOLF- 



STROM: Bruder! KELLNER: Ich danke für 
die Ehre. Warum soll die moderne Anrede 
Bruder! besser sein. Wo zwei Brüder sind, ist 
doch immer ein Kain! Also! Und die Feind- 
schaft ist nicht aus der Welt ! DR. GOLFSTROH : 
Mensch, du machst mich tot ! KELLNER : Warst 
lieber gleich gestorben! DR. GOLFSTROM: 
Alles kommt jetzt auf die Modenzeitung an. 
Wenn die mich totsagt . . . DIE MORGEN- 
ZEITUNG, ein in Papier gehülltes. Gestell, schreit 
herein: Extrablatt! Seltsamer Fall des Doktor 
Golfstroin. Er war der Übermensch von mor- 
gen und ist gestern gestorben! DR. GOLK- 
STROM : Gestorben! Steht das da? DIE MOR- 
ZEITUKG: Koofmich, Oller. Lesen kannste 
selber. DR. GOLFSTROM sucht in seiner Tasche: 
Keinen Nickel! DIE MORGENZEITUNG: Da 
wärste selber hingegangen ! DR. GOLFSTROM: 
War ich auch! Alles Lüge, Blasphemie! DIE 
MORGENZEITUNG: Meensle? Det tut dem 
I'apier nich weh! Jb. KELLNER: Sie haben 
nich mal 'nen Nickel? Sie entehren das Hotel! 
VON KÄSE kommt in gelbem Pyjama: Ah, guten 
Morgen! Nicht tot? DR. GOLFSTROM : Ich 
weiss noch nicht. Hab die Morgenzeitung nicht 
bekommen. VON KÄSE: Na. ich kann's Ihnen 
sagen! Sie sind regelrecht tot! Wir haben Sie 

4» 



schon beerbt! DR. GOLFSTROM: Wer, wir? 
VOR KÄSE: Veronika, meine Frau, ich! Er- 
innern Sie sich doch aus dem Jenseits! Ich 
glaube, es war gestern abend. Sie haben Ihr 
Leben zugunsten Ihrer Ehegattin versichert. 
Nicht wahi'? Sie haben die Prämie bezahlt! 
Alles in Ordnung. Dann versprachen Sie zu 
sterben. Alles in Ordnung. Ich schrieb dafür 
Ihren Ewigkeitsnekrnlog für die Morgenzei- 
tung. Wir sind quitt! DR. GOLFSTROM: Aber 
ich lebe! Pustet. Ich atme! Fühlt an seinen, Man- 
tel herab. Ich bin nass! Lieber von Rase, Sie 
sind ein patenter Philosoph, aber Sie müssen 
sich gewiss irren! VON KÄSE: Keine Rede! 
Sie sind für mich jetzt eine transzendental 
metaphysische Persönlichkeit! Sie sind ein 
Stück Ruhm, etwas, von dem heute morgen 
jeder Deutsche ein Schlückchen hei seinem 
Milchkaffee schmeckt. Was aber geht mich 
Ihre materielle Person an. Was irgendein 
Mensch mit einer reellen Slirn, der eventuell 
eine Frau mit zwei oder mehr Brüsten zu lie- 
ben vorgibt! Sie sind viel mehr für mich! Sie 
sind ein Monument an diesem Tag ! Alles betet 
Sie an. Und das ist mein Werk. Dasniachtein- 
zig mein Artikel aus. Dass Sie jetzt doch noch 
zu leben behaupten, ist ein moralischer Faux- 
43 



pas mir gegenüber. Meine journalistische Per- 
sönlichkeit steht auf dem Spiel. DR. GOLF- 
STROM: Was soll ich denn tun? VON KÄSE: 
Sterben Sie weiter! Herr Publikum kommt, hinter 
sielt die ganze Strasse: Kutteher, Schuttmann, Schul- 
kinder, Barone, Kokotten, Internen, Spitzhunde. 
HERR PURLIKUM: Der Übermensch ist tot! 
Verlust von Jahrtausenden. Wir werden ihm 
das erste Denkmal setzen! Alle scharen sich um 
den verdutzten Dr. Golfstrom. Einige legen Kränze 
ab. Der Schutzmann grüsst militärisch. Ein Hund 
macht an seinem Bein sein Bedürfnis. DR. GOLF- 
STROM wütend: Ich bin ja nicht tot! SCHUTZ- 
MANN: Stören Sie die nationale Zeremonie 
nicht! DR. GOLFSTROM : Die Presse hat eine 
schlechte Fresse! LEUTNANT: Ich mache Sie 
darauf aufmerksam, dass solche Worte in 
Deutschland mit der Guillotine bestraft wer- 
den. DR. GOLFSTROM: Beweise! Beweise! 
Alle strecken ihm die Morgenzeitung entgegen. ALLE: 
Du bist tot, unser Held! Du musst tot sein! 
Befreier der Menschheit! VON KÄSE zuckt die 
Achseln: Nichts zu machen, mein Lieber. Wir 
beerben dich. DR. GOLFSTROM: Mörder! 
SCHUTZMANN: Wenn Sie sich weiter wider- 
setzen, muss ich in Ihre Unsterblichkeit ein- 
greifen ! DR. GOLFSTROM greifl sieh an die Stirn: 
So lasst mich wenigstens eine Kollekte zugun-r 

44 



sten des Nationaldenkmals machen! Dr. Golf- 
strom nimmt leinen Hut ab und macht die 
Runde. Die Leute werfen ihm goldene und sil- 
berne Geldstücke hinein. Aber da der Hut unten 
an Loch hat, /allen die Münzen auf den Tep- 
sich und von Käse geht hinterher und sammelt sie 
VON KÄSE: Nichts zu machen. Wir erben! 
( Inzwischen kommt V eronika im Strassenkleid 
aus demselben Zimmer wie vorher Von Käse) 
VERONIKA: O Geliebter, wo bist du! VON 
KÄSE: Hier, mein Taubchen! VERONIKA : 
Was unterstebn Sie sieb, mein Herr! Zu Golf- 
strom. O Gatte, Geliebter, wo bleibst du so 
lange? VON KÄSE: Du bist meine Frau! 
VERONIKA: Wieso? Weil wir zusammen in 
einem blauen Auto sassen und in der gleichen 
Schussel aus Saargemünder Porzellan die 
Zähne putzten? Zu Golfstrom. Liebling, drei- 
zehn Mark Fünfzig baben wir eingenommen! 
DR. GOLFSTROM: Und ich habe eine fabel- 
hafte Kritik in der Morgenzeitung! Ich stelle 
dir meine sit mt liehen Anbeter vor. Die Vertre- 
ter Deutschlands. Ich bin die Statue der 
Menschenfreiheit! VERONIKA: Dreizehn Mark 
fünfzig für einen Vortragsabend. Wir können 
uns eine Villa kaufen! DR. GOLFSTROM: Am 
besten, ich sage gleich einen neuen Vortrag 
für heute Abend an! Das Plakat tritt auf, dies- 
45 



mal braun und rot und trägt auf dem Bauch die In- 
schrift : EINWOHNER VON BERLIN! Dr. GOLF- 
STROM. DER GROSSE ÖKONOM. VORTRAG 
ÜBER DIE HYGIENISCHEN VERHÄLTNISSE 
DER WANZEN IN DEN FREMDEN HOTELS. 
EINTRITT ZEHN MARK! HERR PUBLIKUM: 
Herr Doktor, ich lade Sie ins Cafii ein. Für 
heute ist Europa gerettet. VON KÄSE: Werden 
Sie mir ein Interview gönnen? DR. GOLF- 
STROM: Ja, bitte, telegraphieren Sie: der 
Wanzenbändiger von Berlin . . . usw. 

Vorhang. 



46 



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LIBRARY, UNIVERSITY OF CALIFORNIA, DAVIS 



Der dramatische Wille. 1032797 
l.-ll. Band. 

Nendelti, Liechtenstein, KrauB Reprint, 
197U. 

11 v. in 2. 22 cm. 

Reprint of the Potsdam, 1919-1923 ed. 

Drama- Collections. "2. German drama- 
Translations from foreign literature.